Reportage
Che brutta giornata
Einmal rufe ich noch an. Wenn er dann nicht rangeht gebe ich auf. Es klingelt. Nach dem fünften Mal wird der Hörer abgenommen und ich höre eine raue Männerstimme „Si? Pronto!“ Ob ich vorbei kommen könnte frage ich, mit ihm sprechen, über Lambrusco, über ihn und seine Geschichte und vielleicht ein paar Fotos machen, nur ein Stündchen und ganz in Ruhe, ginge das? Die raue Männerstimme antwortet, sehr langsam und sehr leise. Es ist heiß, die Sonne brennt und ich merke wie meine Finger am Telefon schwitzen. „Heute ist ein fürchterlicher Tag“ Punkt. Nichts weiter. Das ist die Antwort. Vor meinem inneren Auge liegt ein älterer Herr massiv im Sterben.
An dieser Stelle hätte die Geschichte ihr jähes Ende finden können. Doch brennende Wüschen beflügeln zu Charmeoffensiven und so erhalte ich die Erlaubnis zur Audienz. Vittorio Graziano. Die unangefochtene Ikone, wenn es um handwerklich erzeugten Lambrusco geht. Um den Lambrusco, den man gerne trinkt, weil er Spaß macht und die Seele berührt.
Von Castelvetro di Modena führt die Straße den Hügel hinauf zu Vittorios Haus. In der Mittagssonne mit Blick auf das Tal und die Grasparossa Weinberge steht ein alter Fiat Pinto, so rot wie Tomatensauce im Sommer.
Das Garagentor wird aufgeschoben, und ich begegne einem leicht untersetzten stabil wirkenden Mann im hellrosa Polohemd. Die silbernen Haare glitzern in der Sonne, sein Händedruck ist kräftig.
Vittorio erfreut sich offensichtlich bester Gesundheit und ich denke für einen kurzen Moment, dass dieser Mann genau weiß, wen er hierher kommen lässt.
Ob wir schon Mittag gegessen hätten, fragt er. Er öffnet das Tor zur Cantina und drei braune Augenpaare blicken mich neugierig an. Es ist kühl, nur wenig einfallendes Licht erhellt den Raum. Auf dem Tisch verteilt Weinflaschen, Brot, Käse und Schinken. Die Augenpaare gehören jungen Freunden aus Umbrien, die zu Besuch bei Vittorio sind. Davide macht eine Podcast über Wein und hat Vittorio interviewt. Er zwinkert. „Eigentlich ein Vorwand, um mal wieder mit ihm ein Glas Wein zu trinken.“
Ich werde platziert und im nächsten Augenblick lockt vor mir ein Teller duftender Rigatoni al Amatriciana. Schwarzer Pfeffer wird gemahlen, Parmigiano gerieben und ein 78er Barbera entkorkt.
Gegenüber an die Wand haben Besucher in verschiedenen Sprachen Danksagungen an Vittorio, den Wein und das Leben geschrieben. Auf einem ausrangierten Einkaufswagen thront ein Elektroherd mit zwei Platten, der letzte Rest Sugo dampft noch aus der Pfanne.
Langsam begreife ich was das für ein Ort ist, nehme einen Schluck und tauche ein.
Anfang der 80er als Lambrusco vom Land- zum Industriewein verkam entschloß sich der junge Winzer Vittorio gegen den Strom von Kunstdünger und Pestiziden zur Ertragssteigerung zu schwimmen. Er verzichtete nicht nur konsequent auf alles, was der Biodiversität auf seinen 5 Hektar Land entgegenwirken würde, sondern begann zusätzlich alte, autochthone Rebstöcke aus den Bauerngärten der umliegenden Gegend zu sammeln und pflanzte sie in seinen Weinberg. Dort wuchsen bereits wie überall in der Gegend rund um Castelvetro Grasparossa Reben, die dunkelste Lambruscosorte mit anerkanntem DOC Status. Heute sind von den circa 15 verschiedenen Rebsorten, die auf seinem Grund wurzeln nur etwa 10 ampelografisch bekannt.
Mit seiner Suche nach alten Rebsorten begab sich Vittorio auch auf eine Reise in die Vergangenheit des roten Schaumweines.
Lambrusco ist eine natürliche Schönheit. Er trägt kein Make-Up, und wenn dann wirkt es zu billig oder zu viel.
Um den Wein verstehen zu können, muss man sich das Land anschauen, von dem er stammt. Die Emilia ist eine bäuerliche Region, Parmigiano Reggiano der große Tonangeber der Gegend. Die klimatischen Bedingungen begünstigten die Entwicklung von Milch- und Viehwirtschaft und so konzentrierten sich die Bauern auf die Milcherzeugung für die lokalen Molkereien. Wein wurde nicht gekauft, sondern wie Gemüse und Obst zur Eigenversorgung selbst angebaut und gekeltert. Er spielte eine Nebenrolle in der Mischkultur. Und erst wenn das Heu eingefahren war, hatte man Zeit zur Weinlese. Es brauchte eine spät reifende Sorte, die zudem ertragreich war und mit der Feuchtigkeit des Pos und seiner Zuflüsse klar kam. Lambrusco bot hierfür die idealen Voraussetzungen.
Und so wurden die Weine im Oktober oder November gelesen, gestampft, gepresst und vergoren.
Doch durch die späte Lese und die sinkenden Temperaturen der einbrechenden Wintermonate unterbrachen die Hefen ihre Aktivität. Der Most ruhte, die Fermentation hielt Winterschlaf. Unbemerkt von den Bauern, die dem Wein ohnehin nicht so viel Aufmerksamkeit entgegenbrachten. Als es schließlich mit den ersten Frühlingstagen langsam wärmer wurde begannen die Hefen im Wein wieder aktiv zu werden, produzierten kräftig CO2 und ließen wohl die ein oder andere Flasche im Keller der Bauern hochgehen.
Mit der Zeit steuerten sie diesen Prozess bewusst, indem sie noch nicht vergorenen Most kühl aufbewahrten und mit dem fertigen Wein abfüllten. Die Zweitgärung verlief ähnlich wie bei Champagner in der Flasche. Die Aromen wurden komplexer und Lambrusco Weine zogen in die Osterien der Region ein. Man trank ihn zu Tortellini al Panna, Lardo und Cotecchino.
Vittorio öffnet eine Flasche „Brutsprinstin“. Ein dunkler Rubin sprudelt ins Glas, leichtfüßig mit kräftiger schwarzer Frucht und erdigen Noten. Es ist ruhig. Wir trinken und lauschen wie Kinder dem Großvater.
„Lambrusco ist ein verwundeter Wein. Es wurde viel zu viel Geschäft mit ihm gemacht.“
Die Konzentration der großen Winzergenossenschaften auf Masse statt Klasse, und die jahrzehntelange Low-Price Politik verwischten das Vertrauen in die Arbeit der Lambrusco Bauern. Um mit dem Markt mithalten zu können begannen mehr und mehr Winzer chemische Düngemittel, Pestizide und Schönungshilfen in der Weinbereitung im großen Stil einzusetzen. Die Zweitgärung verlief nicht mehr in der Flasche, sondern in großen Drucktanks. Lambrusco entwickelte sich vom einfachen zum banalen Wein. Seine günstigen Qualitäten wurden auf den europäischen und amerikanischen Markt gespült, blieben kleben wie Fliegen und etablierten das Image eines Billigweines.
Besonders der Lambrusco Amabile, ein Wein mit gehörig Restzucker avancierte zum ausdrucksschwachen, standardisierten Verkaufsschlager. Ein Liter davon ist für 1,60 € zu haben.
Wir gehen in den hinteren Teil des Weinkellers, vorbei an Vittorios graublauem Bademantel und an Salumi, die von der Decke hängen. Der Duft des Naturschimmels vermischt sich mit dem des Weines.
„Ein Freund von mir hat sie gemacht. Die Schweine von denen sie stammen, haben im Wald gelebt. Sie sind dort geboren und geschlachtet worden.“
Inzwischen ist aus dem Rebell Vittorio eine Referenz für eine ganze Generation junger, handwerklich arbeitender WinzerInnen geworden, die sich dem „echten“ Lambrusco verschrieben fühlen. Er folgt seit Beginn konsequent der Tradition des Weines. Zwischen seinen Rebstöcken pflanzte er Ulmen und Kräuter, die Vegatation darf naturgemäß wachsen. Bewässert wird nicht. Seine Reben bekommen Wasser, wenn es regnet. „Und wenn Sonne ist, trinken wir die Sonne“.
In seinen Augen kann ich etwas von der Überzeugung ahnen, die seine Arbeit über all die Jahre getragen hat. Über die Zeit als noch nicht Menschen aus Japan, Israel oder Dänemark zu dem rosa getünchten Haus auf dem Hügel pilgerten, um Vittorios Wein zu kaufen. „Am schwierigsten ist es immer noch hier. Menschen am anderen Ende der Welt lieben meinen Wein. Und das freut mich. Doch hier im Dorf, da verkaufe ich nichts. Sie verstehen es nicht.“
Inzwischen ist es spät geworden, aus dem Stündchen wurden vier und meine Lippen haben sich rot gefärbt vom dunklen Grasparossa. Ich fühle mich beseelt. Eine Frage habe ich noch: „Warum hast Du gesagt, dass heute ein fürchterlicher Tag ist?“ Vittorio wird ernst: „Seit zehn Tagen geht das schon so. Ständig kommen Leute, die mich besuchen wollen. Zehn Tage essen, trinken, gesellig sein.“ Er lacht „Ich muss mich auch mal ausruhen.“
Dieses Interview erschien 2019 im Effilee Magazin Nr.50