Eine Tüte jeden Donnerstag

Corona schafft Armut und Hunger. Vor einer Essensausgabe in Berlin-Moabit werden die Schlangen länger. Wo früher für kleines Geld unverkäufliche Lebensmittel eingekauft werden konnten, packen die Helfer nun Rationen für alle. Nicht nur aus Hygienegründen

„Was haben wir heute für Ware?, „Wenig Obst und Gemüse, dafür Kekse. Und viel Joghurt.“

Fünf abgenutzte Biertische stehen in der Mitte des Gemeindesaales in Berlin-Moabit, gestapelt voll mit grünen Lebensmittelkisten. Oben wacht das Jesuskreuz. Unten scharren sich Männer und Frauen in leuchtend roten Schürzen. Sie greifen hinein, begutachten verschimmelte Orangen und zerquetschte Tomaten und werfen sie in einen der Plastikeimer zu ihren Füßen. Das Sortierteam der Augabestelle von Laib und Seele in Moabit macht an diesem Donnerstag seinen wöchentlichen Job. Um halb eins muss die Ware stehen, dann kommen die Tütenpacker in den Gemeindesaal. 

Vor genau einem Jahr konnten die Kunden hier noch selbst wählen und einkaufen wie in einem kleinen Tante-Emma-Laden. Corona und die damit einhergehenden Hygiene- und Distanz-Konzepte haben das im Februar 2020 verändert, erzählt die Leiterin Edda Straakholder. Seitdem packen die Ehrenamtlichen große Papiertüten mit dem, was jede Woche auf den Biertischen landet. Die Kunden müssen sie nur noch abholen. Was zu groß für die Tüte ist, sperrige Ananas oder ganze Brotlaibe, gibt es zusätzlich an der Theke. Das System geht schneller, aber es bevormundet auch. Nicht jeder mag alles. Selber wählen können sie nur noch bei Sonderposten, die es an der Ausgabe gibt. „Ich weiß überhaupt nicht, ob wir mit den Tüten nach Corona weitermachen oder nicht“, sagt Straakholder.

Vor 15 Jahren hat die Frau mit den langen grau-melierten Haarwellen die Ausgabestelle gegründet. Damals wurde Laib und Seele als gemeinsame Aktion der Berliner Tafel e.V, der Kirchen und des Rundfunksenders rbb ins Leben gerufen, um regelmäßig gesammelte Lebensmittel an Bedürftige abzugeben. Mehr als 45 Ausgabestellen gibt es inzwischen in Berlin.

Straakholder war Kirchenmusikerin in der Gemeinde am Spreeufer, als sie von der Idee hörte. Sie spielte Orgel und leitete Chöre. Im April 2005 gab sie eine große Bach-Aufführung. Nach der Matthäus-Passion ging es los. Sie lernte eine Laib und Seele Stelle zu organisieren, ihre eigene. Denn jeder Ort braucht ein individuelles Konzept. „Mit am wichtigsten sind zuverlässige Helfer. Nicht einmal ja und dreimal nein. Wenn einmal viel Ware kommt, braucht es genug Helfer.“, sagt sie.

Straakholder mobilisierte viele HelferInnen über die Kirchenchöre, bis heute, obwohl sie seit eineinhalb Jahren im Ruhestand ist. Die meisten von ihnen packen jede Woche mit an. 

Zwei von ihnen sind Christel und Georg. Hier sind alle miteinander per Du. Die beiden beugen sich gerade über eine Kiste Papayas. Christel ist 80 und seit Anbeginn dabei. Mit der Kirche hatte sie eigentlich nicht viel am Hut. Ihr Mann hatte einen leitenden Posten bei der AEG, sie selbst blieb nach der Hochzeit zu Hause. Als er starb, begann sie sich in der Kirche zu engagieren. Inzwischen organisiert sie den Blumenschmuck, hilft beim Obdachlosencafé und jeden Donnerstag bei Laib und Seele

„Ist die noch in Ordnung?“, fragt Georg mit kaum überhörbarem bayrischem Akzent und zeigt auf eine grün-gelbe Papaya. Der 61-Jährige ist heute den ersten Tag dabei. In der vorigen Woche ging er mit dem Hund an der Kirche spazieren und sah die Schlange an Menschen. Spontan fragte er, ob er mithelfen könne. Die Kinder sind aus dem Haus, der ehemalige Bankkaufmann hat Zeit. Jetzt lernt er von Christel welches Obst und Gemüse das Go bekommt und in die Tüten darf, und welches nicht.

Die Biotonne der Ausgabestelle ist nach dem Aussortieren meist voll mit schimmelnden Früchten und gärendem Gemüse. Denn die Supermärkte, von denen die Lebensmittel stammen, sortieren nicht selber aus. Was zum Begutachten auf den Tischen liegt wechselt jede Woche. Die Berliner Tafel bringt jeden Donnerstag einen Lieferwagen voll beladen mit grünen Kisten aus ihrem Zentrallager zur Ausgabestelle in Moabit. Im ersten Lockdown waren auch viele Lebensmittelspenden von geschlossenen Restaurants dabei. Die gibt es hier normalerweise selten. 

Die meiste Ware aber kommt von fünfzehn Supermärkten im Viertel. Zwei Mal die Woche holen die Helfer aus Moabit es selbst ab: Alles, was wegen des Aussehens nicht mehr in die Regale passt oder abgelaufen ist. „Man lernt so auch einiges kennen. Sachen, die man selber nie im Laden gekauft hätte“, sagt Edda Straakholder und zeigt auf einen Coffee Shot in pechschwarzem Rennauto-Design. 


Im Vorraum der Kirche ist die Ausgabe schon aufgebaut. Hinter zwei massiven Holztischen stapeln sich Kisten mit Saft, Schokoladenkeksen und Bio-H-Milch. Die werden den Kunden heute zusätzlich zu den Tüten angeboten. Wiebke, eine Studentin zeigt auf eine volle Kiste mit Kloßteig: „Wollen wir den wirklich auch rausstellen? Den nimmt doch eh wieder keiner.“ 

Denn nur das, was jeder isst, kommt in die Tüte: Obst und Gemüse, Kartoffeln, Nudeln, Kekse. Fleisch, von dem es meist nur wenig gibt, wird später bei der Ausgabe abgefragt. Viele Kunden sind Vegetarier. 

Und mit Corona sind es mehr geworden. Im Februar 2020 kauften noch etwa 70 Haushalte bei Laib und Seele in Moabit ein. Inzwischen sind es 129 geworden. Straakholders Team versorgt damit ca. 260 Personen im Kiez. Und waren es bisher vor allem Rentner, ausgesiedelte Russen und Geflüchtete, kommen nun auch immer mehr Leute mit Hartz 4. Manchmal stehen auch Studenten in der Schlange. Jeder, der hier einkaufen will, muss ein geringes Einkommen nachweisen, etwa mit einem Hartz-4-Bescheid, und wird dann registriert. Zwei Drittel sind Stammkunden. 

Das Tütenpacken Arbeit ist ein Grundkurs im Verteilen, ein Test in flexibler Kalkulation. Letzte Woche gab es viel Brot, heute kaum etwas. Dafür warten Lebkuchen von Weihnachten und Nudeln im Lager. Das Ziel ist, die 160 Tüten möglichst gleichwertig und vielfältig zu füllen.

Zellmai, der an einer anderen Kiste steht, erzählt, dass er vor vier Jahren noch selbst zum Einkaufen kam. Der 41-Jährige war mit seiner Frau und drei Kindern aus Afghanistan geflohen. Als er hörte, dass Helfer gebraucht wurden, stand er die nächste Woche morgens vor der Tür. 

Inzwischen sind Zellmai und die Anderen mit dem Aussortieren fertig. Nur Christel steht noch vor einer Kiste voller Himbeeren, und schüttelt verständnislos den Kopf. Unter der Folie der Verpackungen sitzt üppig grauer Flaum. Das kann alles in die Biotonne.  

Die Pandemie, das war für die Ehrenamtlichen rund um Edda vor allem ein ständiges Um- und sich neu Aufstellen. Anfangs wurden die Tüten noch den Kunden nach Hause geliefert. Zum Glück meldeten sich damals viele junge Leute, Studenten, auch ein Restaurantbesitzer, die wegen Corona nun selbst erstmal nichts zu tun hatten. Mit Lastenrädern und Autos fuhren sie die Lebensmittelpakete aus. In den ersten Wochen packte die Tafel noch zentral die Tüten, und während andere Stellen von Laib und Seele schlossen, machte Moabit weiter. Darauf sind hier stolz. 

Eine Tüte kostet 1,50 € und ist für ein bis drei Personen vorgesehen. Ab der vierten im Haushalt gibt eine zweite. Die größte Familie, die hierher kommt, hat zwölf Köpfe. Macht vier Tüten. Sich allein damit zu ernähren kann aber niemand. „Was wir hier den Menschen geben ist ein nettes Zubrot. Zum Überleben reicht es nicht“, sagt Straakholder. 

Um 14 Uhr öffnen sich die Kirchentüre. Auch ohne ein Halleluja kann man die Erleichterung der Wartenden spüren. Es sind nicht alle 129, die berechtigt sind, aber viele. Die Ausgabestelle arbeitet mit Zeitfenstern für je ein Viertel der Kunden, damit die Schlange nicht so lang wird.

Herr Wagner ist die Nummer vier. 15 Minuten braucht er von seiner Wohnung bis zur Kirche. Seit 15 Jahren geht er diesen Weg jeden Donnerstag. Er ist in Moabit aufgewachsen, Eisenbahner geworden und hatte eigentlich einen gut bezahlten Job bei der AEG. Doch als die in den 80ern pleite ging, wurde er arbeitslos. Heute bezieht er deswegen nur Grundrente. Mit dem Rentner- Ticket fährt er, so oft es geht, durch Berlin, erzählt er. Denn Herr Wagner liebt alles, was mit Schienen zu tun hat. Und er mag Spritzkuchen. Deswegen steigt er jeden Montag Morgen in die Straßenbahn zu seinem Lieblingsbäcker nach Pankow. „Die backen noch so wie früher.“, sagt der 73-jährige „Und warten schon mit einer Tasse Kaffee auf mich, wenn ich komme.“

Er hat seinen Einkaufstrolli dabei, heute hofft er auf Gemüse und Kartoffeln, Herr Wagner hat Lust auf Eintopf. Verständnislos zeigt er auf die Palette Kloßteig, der nun doch an der Seite steht, zwischen Tulpen und Kefir. „Den nehme ich auf gar keinen Fall. Ich mag Klöße. Aber das letzte Mal war das so viel Teig. Eine Woche habe ich nur Klöße gegessen!“

Weiter hinten in der Reihe wartet Teresa, die braune Wollmütze tief ins Gesicht gezogen. Ihren echten Namen will sie nicht nennen. Sie kommt erst seit einem Monat. Die 35-jährige hat in einer Großküche gearbeitet. Wegen Corona wurde ihr gekündigt, die versprochene Umschulung vom Arbeitsamt beginnt und beginnt nicht. Sie hatte schon länger gesehen, dass an der Backsteinkirche Leute anstanden. Das erste Mal dann hat sich nicht komisch angefühlt. „Hier zeigt niemand mit dem Finger auf andere.“ 

Mittlerweile ist es kalt geworden. Ein eisiger Wind weht von der Spree auf den Vorplatz herüber. Herr Wagner ist an der Reihe. Er zählt 1,50 € ab und wirft sie in den Plastikschlitz an der Kasse. „Du hast immer nur Kleingeld.“, sagt Jaochim. Er kennt die langjährigen Kunden. „Möchtest Du Milch? Nein? Aber hier, ich habe noch so Müller-Milch, Geschmack: Spicy Dynamite Cinnamon.“, liest er das Etikett vor. Teresa sagt: „Man ist hier nicht wählerisch, sondern dankbar.“ Und Herr Wagner streckt die Hand aus.

Fotoreportage: Eine Tüte jeden Donnerstag

Diese Reportage erschien 2021 im Effilee Magazin Nr. 56

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