Portrait
Das Brot seiner Stadt
„Ganz wichtig ist die Kruste. Das Innere braucht Luftzufuhr und muss trotzdem feucht bleiben. 1,5 cm sind ideal.“ Giacinto Perrone klopft gegen den Boden des Brotes und horcht. Ein kompakter Ton erklingt. Der Bäcker hält sein Opus Magnum in den Händen. Einen gewaltigen, leuchtend gelben Halbmond, der duftet.
An einem sonnigen Vormittag im Spätsommer steht Perrone in der Backstube seiner Bäckerei Pane e Pace. Hinter ihm werden Mandelkekse in den mannshohen Holzofen geschoben. Daneben stapeln sich Bleche mit Focaccia, rote, grüne, gelbe. Vor ein paar Stunden noch wurden hier Brotlaibe für den neuen Tag gebacken. Die Bäcker fangen um 24 Uhr an zu arbeiten, um 07.00 Uhr öffnet der Laden. Vor allem die Alten hier wollen ihr Brot morgens noch warm aus dem Ofen kaufen.
Perrone, eine hünenhafte Erscheinung mit leicht gebeugtem Gang, ragt in den hellblauen Himmel über Matera. Die langen Arme schlackern an ihm herunter. Dass alles eine Frage der Proportionen ist zeigt sich, wenn Perrone den 10 kg-Laib in die Höhe wuchtet. „Brot in dieser Größe war schon ausgestorben. Dabei waren gerade die großen Laibe früher ganz normal in Matera.“, schnauft er unter dem Gewicht des Brotes.
Vor Jahren hat der Materaner zusammen mit seiner Frau Lucia die Bäckerei von den Schwiegereltern übernommen. Sein eigener Vater war Unternehmer, seine Mutter Hausfrau. Mit Backen hatte er nichts am Hut. Bis er die rothaarige Bäckerstochter Lucia traf. Er lernte backen, ging beim Schwiegervater in die Lehre. Heute vertritt er das Erbe des wohl imposantesten Brotes Süditaliens.
Das liegt in der zweitgrößten Stadt der Basilikata und UNESCO Weltkulturhauptstadt 2019: Matera - weniger eine Stadt als ein aus Tuffstein gehauenes Monument. Weit oben thront sie seit Jahrhunderten auf einem Felsmassiv der Hochebene Murgia. Und das Pane di Matera passt zu ihr wie diese karstige Umgebung. Nicht nur der tiefen Furchen in der Kruste wegen. Am Brot lässt sich auch die Geschichte dieser Stadt erzählen.
Reist man 100 Jahre in die Vergangenheit ist Brot noch das Nahrungsmittel Nr.1 in Matera. Pasta, die ein Sugo verlangt konnten sich nur reiche Familien regelmäßig leisten. Der Großteil der Bevölkerung hingegen lebte von Sauerteigbrot aus lokalem Hartweizen.
An den Wänden der Backstube von Pane e Pace prangen in bunten Schriftzügen Wörter wie Adamello, Isildur, Cannizzo, Namen alter Grano Duro Sorten. Der Hartweizen aus der Gegend um Matera war schon in der Antike für seine Qualität bekannt.
„Laut den Bestimmungen der geschützten Ursprungsbezeichnung muss ein Brot, das als Pane di Matera bezeichnet wird, mindestens 20% Hartweizenmehl aus antiken Sorten enthalten, das von Feldern rund um Matera stammt. Bei uns sind es 100 Prozent.“ , erklärt Perrone. Bisher hat er mit der Sorte Senatore Cappelli gearbeitet. Die kennen inzwischen auch kulinarisch informierte Italien Touristen als die alte Sorte. Doch weil es inzwischen ein Saatgutmonopol in der Emilia-Romagna für Sentore Capelli gibt, bäckt Perrone ab 2020 mit der noch älteren Sorte Saragella.
Hartweizen stammt wie der wirtschaftlich bedeutendere Weichweizen vermutlich von dem Urgetreide Emmer ab. Die beiden Geschwister teilen sich kochgeschichtlich und im Anbau den italienischen Raum auf: Hartweizen wird traditionell in Süditalien angebaut und verarbeitet. Weichweizen beansprucht die Gegenden ab der Poebene für sich. Sie unterscheiden sich in der Proteinzusammensetzung: Hartweizen enthält mehr Klebereiweiß und bindet die Stärke fester an sich. Beim Kochen wird sie dadurch weniger ausgeschwemmt. Weil Hartweizen außerdem mehr gelbe Farbpigmente enthält ist die Pasta aus dem Süden auch verhältnismäßig gelb (obwohl sie im Gegensatz zur norditalienischen ohne Ei hergestellt wird).
Auch die Mehle haben im Italienischen verschiedene Namen: Semolina bezeichnet gemahlenen Hartweizen, der vor allem für Pasta verwendet wird, Farina Mehl aus Weichweizen. Das Pane di Matera wird aus Semolina rimancata hergestellt, also sehr feinem, doppelt vermahlenem Hartweizengrieß.
Matera wird heute vor allem wegen seiner Bauwerke besucht. Denn die Bewohner lebten über Jahrhunderte in Tuffstein geschlagenen Höhlenbehausungen, so genannten Sassi. Deren Kulisse ist der Grund, warum Matera erst zum Schauplatz mehrerer Jesusfilme wurde, dann zur Touristenhochburg. 2004 drehte hier Mel Gibson „The Passion of the Christ“. Seitdem hat sich die Bettenzahl verzehnfacht.
Spaziert man durch das verwinkelte System der Sassi erahnt man noch Älteres: Vor Jahrmillionen wogte hier einmal das Meer. In den Wänden der Sassi lassen sich versteinerte Überreste von Muscheln und Schnecken erkennen. Im Inneren der Höhlenhäuser sorgt der Tuffstein für eine konstante kühle Temperatur und Luftzirkulation.
Dort lebten die Familien in einem Stockwerksystem gemeinsam mit den Tieren. Alle zwei Wochen setzte die Hausfrau hier den Brotteig an. Den familieneigenen Sauerteig hütete sie von Brot zu Brot.
Heute sei das alles Geschichte seufzt Perrone: „Von den zwanzig Bäckereien in Matera backen gerade mal vier ihre Brote mit Sauerteig. Die anderen verwenden Bäckerhefe. In dem Fall schaffen sie nämlich drei Ofengänge in der Nacht. Mit Sauerteig wegen der langen Gare nur zwei. Das Brot kostet dann mehr. Aber natürlich hält es sich länger und schmeckt besser.“
Geschmack und Aroma spielten früher wenn überhaupt eine sekundäre Rolle, viel wichtiger war die Haltbarkeit des Brotes. Die garantierte den Hirten und Feldarbeitern auf der Hochebene relative Ernährungssicherheit. Der angesetzte Teig musste das Überleben der Familie in den nächsten zwei Wochen sichern.
Hatte sie fertig geknetet, hörte die Frau meist schon die Trompete des herannahenden Garzone. Der Brotträger brachte den Teig zum Forno, einem der öffentlichen Gemeinschaftsöfen. Er hatte einen harten Job. Je nach Größe der Familie wogen die Laibe 10 bis 15 kg.
Im Forno schließlich wurden sie gebacken. Zur Wiedererkennung hatte die Frau ihr Brot mit dem Familienstempel markiert.
Die Aufgabe des Bäckers bestand also rein im (Ab-)Backen. Der Teig selbst war Privatsache.
So blieb es über Jahrhundert, bis in die 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Nach dem 2.Weltkrieg bezeichnete die Italienische Regierung die Bewohner der Sassi als die „Schande Italiens“. Die dortigen Lebensbedingungen waren unvereinbar mit dem Bild eines modernen Landes: Mensch und Tier auf engstem Raum, ohne Strom oder Heizung, kein fließend Wasser, keine vernünftige Kanalisation. Der piemontesische Schriftsteller Claus Levi schrieb 1945 nach einer Reise in die Höhlenstadt er habe noch "nie so ein Elend gesehen.“ Sieben Jahre später ließ die Regierung alle Materaner per Gesetz in eine Neustadt umsiedeln. Gebaut von Architekten aus dem Norden.
Mit der Räumung der Sassi veränderten sich die Lebensgewohnheiten und damit die Brotkultur. Die alten Gemeinschaftsöfen wurden geschlossen. Teig wurde nun nicht mehr Zuhause angesetzt, sondern vom Bäcker selbst. Er hieß nun auch nicht mehr Fornare, sondern wurde zum Panettiere. Verloren ging damit neben einer Vielzahl an Sauerteigen auch die Tradition der großen Brotlaibe. Denn plötzlich hatten die Bewohner die Möglichkeit ihr Brot jeden Tag frisch zu kaufen.
In den 70ern, als Perrone ein Kind war hatte sich der Lebensstil schon geändert. Mehr und mehr Bäcker verwendeten Backhefe statt Sauerteig. Die lange Haltbarkeit war nicht mehr nötig. Sein täglich Brot kaufte man in Bäckereien so frisch und so oft man wollte. Die Laibe schrumpften zu 1-, maximal 2kg Modellen.
„Das eigentliche Problem ist, dass heute einfach weniger Brot gegessen wird.“, sagt Perrone. „Der Ernährungsstil der Menschen ist heute ganz anders als noch vor 70 Jahren. Brot wird nur noch als Begleiter gegessen.“ Als die Kunden auf einmal 250g Laibe nachfragten, reichte es ihm. Seit 2004 lässt Perrone wieder Brot in größeren Laiben backen. 5, 10, sogar 15 kg Laibe werden nun fast jede Nacht neben den kleineren Exemplaren in den Ofen geschoben.
1993 wurde die Altstadt von Matera Teil der UNESCO-Welterbe Liste. Von Schande soll seitdem keine Rede mehr sein und in den Sassi tummeln sich B&B’s und Kunsthandwerker.
Das Pane di Matera hat -größenunabhängig- seit 2006 den IGP-Status der geschützten Herkunftsbezeichnung. Reiseführer und Speisekarten preisen das Brot mit der dicken Kruste und der üppigen Krume. Man isst es als Pan con olio, bedeckt mit dem leuchtend gelben Olivenöl der Basilikata oder wischt die letzten Reste des Tomatensugos aus dem Teller. Ein Restaurant bietet sogar ein Brotmenü zur Degustation an.
Ist Perrones mächtiges Brot nicht etwas aus der Zeit gefallen, mehr ein Relikt? Mitnichten, meint der Bäcker. Er sieht sich in der Verantwortung. Sein Ziel sei nicht das selbe Produkt wie vor zweihundert Jahren herzustellen. Für ihn und seine Familie erzählen die großen Laibe die kulinarische Geschichte seiner Geburtsstadt. Und wie hält man die am besten am Leben?
Dafür, das weiß er müssen sie auch die Arbeitsbedingungen in der Bäckerei ändern. In Matera sei die Situation wegen des Tourismus etwas besser als im Rest der Baslikata. Aber auch hier haben sie mit einem hohen Weggang an Jugendlichen zu kämpfen.
Perrone ist sich sicher: „Damit es eine neue Generation Bäcker in Matera geben kann, werden wir die Arbeitszeiten anpassen müssen. Die Jungen wollen nicht mehr in der Nacht arbeiten. Dann müssen sich die Alten vielleicht mal etwas umstellen.“
Inzwischen hat sich das große Brot aus der Basilikata einen Namen außerhalb der Stadt gemacht. Einmal die Woche gehen 10kg-Laibe auf die Reise zu Restaurants und Feinkostläden im Norden. Und die Kunden stehen Schlange um eine Scheibe zu ergattern. „Wenn die Materaner ihr Brot woanders sehen, in Triest oder in München macht es sie stolz.“, freut sich Perrone. Schon Massimo Monatanari, einer der bekanntesten Historiker italienischer Kulinarik, schrieb, dass die Italiener stets ihre lokalen Spezialitäten erhielten, indem sie sie exportierten. Es gibt also Hoffnung für das Pane di Matera. Letztens kam ein Prinz aus Abu Dhabi in die Stadt. Wenn alles gut geht sollen in der Wüste bald große Laibe wie in Matera entstehen. Perrone ist schon mal mit einem seiner Bäcker rüber geflogen - um Probe zu backen, den Hartweizen im Gepäck.
Dieses Interview erschien 2021 im Marmite Magazin Nr. 01/21